In unserem Magazin interviewen wir inspirierende Menschen und Zukunftsgestalter:innen aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. Wir stellen immer dieselben Fragen und bitten um die eigene Perspektive zu einem wechselnden Zukunftszitat.
Ich freue mich sehr, dass sich Dr. Stefan Bergheim Zeit für unsere Fragen genommen hat. Er hat mich für Futures Literacy als Ansatz der Zukünftebildung begeistert und bei ihm und seinem Team von ZUKÜNFTE durfte ich die eng mit Futures Literacy verbundene Methodik der Zukünftelabore erlernen.
Dr. Stefan Bergheim ist Direktor der Forschungseinrichtung „ZGF – Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt“ in Frankfurt am Main. Dort stärkt er das Wissen über die komplexen Voraussetzungen für hohe Lebensqualität und fördert den Wissensaustausch an den Schnittstellen von Themen, Disziplinen und Interessen.
Für die Bundesregierung hat er in der Regierungsstrategie „Gut leben in Deutschland“ gearbeitet. Gemeinsam mit der UNESCO und Netzwerken in Deutschland und weltweit stärkt er die Zukünftebildung (Futures Literacy) mit der Methodik der Zukünftelabore.
[1] Was bedeutet Zukunft für Dich?
Dr. Stefan Bergheim: Zunächst ganz banal: dort werde ich den Rest meines Lebens verbringen. Meine Kinder auch. Kann ich mich, meine Kinder, mein Umfeld irgendwie darauf vorbereiten? Kann ich die Zukunft beeinflussen? Das sind für mich hochgradig spannende Fragen, denen ich gerne bei allen möglichen Gelegenheiten nachgehe. Privat und beruflich.
[2] Zukunft bzw. Zukünfte: Planst Du sie oder lässt Du sie auf Dich zukommen?
Dr. Stefan Bergheim: Das kommt darauf an. Unseren Familienurlaub plane ich gerne vorab, da dafür viele Perspektiven und Möglichkeiten zusammengebracht werden müssen. Beruflich lasse ich meine nächsten Schritte gerne auf mich zukommen: Ich weiß nicht, was genau ich im Jahr 2023 machen werde, woran und mit wem ich arbeiten werde. In einem konkreten Projekt gehe ich dann wieder eher in den Planungsmodus – wohl wissend, dass im Projekt dennoch viel Ungeplantes passieren wird.
[3] Wie viel Blick zurück in die Vergangenheit braucht es aus Deiner Sicht, um wünschenswerte Zukunft zu gestalten?
Dr. Stefan Bergheim: Es braucht enorm viele und tiefe Blicke in die Vergangenheit. Über die wissen wir ja einiges, weil wir alle da waren. Natürlich haben wir unterschiedliche Aspekte der Vergangenheit erlebt, sind unterschiedlich damit umgegangen und haben auf Basis dieser Prägungen unterschiedliche Wege gefunden, um in der Gegenwart zu handeln. Diese Vielfalt sichtbar und damit nutzbar zu machen, finde ich enorm spannend. Die Wünsche für die Zukunft ergeben sich dann fast von allein.
[4] Zukunftsmut, Zukunftsangst, Zukunftsrealismus… Welchen Begriff würdest Du unterstreichen oder ergänzen, wenn es um die Frage geht, was es braucht, um Veränderungen voranzubringen, die – einmal ganz global gesprochen – zu einer Weiterentwicklung führen.
Dr. Stefan Bergheim: Zunächst nutze ich am liebsten den Plural, um zu zeigen wie vielfältig das Später in unseren heutigen Vorstellungen ist. Also lieber Zukünftemut, Zukünfterealismus – und auch Zukünftemacherei – selbst wenn die Rechtschreibkorrektur dann meckert.
Mein Lieblingsbegriff ist die Zukünftebildung oder Zukünftekompetenz. Also zu wissen, wie ich mit der Zukunft bei unterschiedlichen Anlässen umgehe. Wann hole ich mir Expertenrat ein, wie zum Beispiel eine Wetterprognose? Wann muss ich selbst eine Prognose erstellen, wie zum Beispiel beim Überqueren einer Straße? Wann sollte ich wünschenswerte Zukünfte entwickeln und welche Grenzen haben die? Wann und wie beziehe ich eine große Vielfalt von Stimmen in die Entwicklung z.B. einer Vision ein? Wann ist Gelegenheit, um über Zukünfte völlig neu nachzudenken und den Möglichkeitenraum weit zu öffnen?
Bringt das dann Veränderung voran? Vermutlich. Denn Veränderung findet ja ständig statt. Das Leben ist Veränderung. Ist es immer wünschenswerte Veränderung? Vermutlich nicht. Aber können wir immer im Voraus wissen, welche Veränderung wünschenswert ist? Und was ich mir wünsche, dass muss noch lange nicht für andere Menschen wünschenswert sein oder überhaupt relevant. Daher finde ich es wichtig, darüber miteinander zu reden und gemeinsam Möglichkeiten zu besprechen, die für viele gut funktionieren können.
[5] Welche Top 5 Kompetenzen braucht es aus Deiner Sicht künftig mehr denn je und warum – wenn Du den Fokus auf Menschen in Organisationen richtest?
Dr. Stefan Bergheim: Die Fähigkeit zuzuhören und in den Dialog mit anderen zu gehen, nachzufragen mit einem echten Interesse an den anderen Perspektiven.
Die Fähigkeit und Offenheit, viele Signale in unserer komplexen Welt wahrzunehmen und auszuwerten, darin Muster zu erkennen.
Die Fähigkeit, die Interessen, Anreizsysteme, Zuständigkeiten und Prägungen anderer Menschen oder auch deren Rollen zu erkennen und als Ausgangsbasis zu akzeptieren.
Die die Fähigkeit, Bilder von Zukünften sichtbar zu machen und als wertvolle Informationsbasis in der Gegenwart einzusetzen.
Und natürlich Fähigkeit, trotz all der Offenheit und Unsicherheit, trotz all der historischen Prägungen und Unterschiede zu handeln, aktiv zu sein.
[6] Welche Deiner Entscheidungen hat Deine Zukunft am entscheidendsten verändert?
Dr. Stefan Bergheim: In jedem Leben gibt es zig Weichenstellungen. In meinem waren es diese: Was studiere ich? Gehe ich ins Ausland? Welchen ersten Job suche ich? Kündige ich? Gründe ich eine Familie? Wohin entwickle ich mich beruflich weiter?
Wichtig war mir immer, dass sich aus einer konkreten Entscheidung in der jeweiligen Gegenwart weitere Möglichkeiten fürs Später ergeben – ohne genau zu wissen welche das sein könnten. Also habe ich Volkswirtschaftslehre studiert, weil das viele berufliche Optionen eröffnet hat. Ich bin in die USA gegangen, weil ein weiterer Abschluss und gute Englischkenntnisse vermutlich weitere Optionen ermöglichen. Es geht also darum, zu entscheiden und gleichzeitig offen zu bleiben.
[7] Was kommen wird ist nicht vorhersehbar. Der Raum der Unbestimmtheit kann Abenteuer sein und den Gestalter:innen- und Entdecker:innengeist wecken. Es kann jedoch auch Unbehagen aufkommen, sich in unbekanntes Terrain zu begeben. Welche Idee zum Umgang mit dem Unbestimmten kannst Du unseren Leser:innen mitgeben?
Dr. Stefan Bergheim: So ist das Leben! Wie traurig wäre es, wenn alles vorbestimmt wäre. Dann hätten wir auch keine Entscheidungsfreiheit. Wir sollten die Unsicherheit als Geschenk annehmen und versuchen so entspannt wie möglich mit ihr umzugehen. Und gleichzeitig staatliche Institutionen aufbauen, die uns dafür stärken und die uns auffangen, wenn etwas gar nicht geklappt hat. Da sind uns die skandinavischen Länder weit voraus.
[8] Von Jim Dator, Professor und Direktor am Hawaii Research Center for Futures Studies stammt das Zitat: „Any useful statement about the future should at first seem ridiculous.“ Wie ist Deine Perspektive zur Aussage von Jim Dator?
Dr. Stefan Bergheim: Dem großen Jim Dator widerspreche ich ungern, hier dann doch. Für mich ist Zukunft viel banaler, viel alltäglicher. Wir äußern uns ständig zu Zukünften. Wir sagen ständig was wir erwarten, was wir uns wünschen. Eigentlich sogar noch zu wenig. Ich wünsche mir, dass wir noch mehr miteinander über viele verschiedene Zukunftsbilder sprechen und dabei niemanden lächerlich machen. Alle Blickwinkel sind wichtig und wertvoll. Niemand von uns war in der Zukunft, somit kann niemand wissen welche Aussage zur Zukunft richtig oder falsch ist. Na gut, die meisten physikalischen Gesetze sollten wohl auch im Jahr 2100 noch bestand haben.
Ganz herzlichen Dank für Deine Gedanken, lieber Stefan! Mögen sie Inspiration sein, Denkanstöße geben und Lust machen darauf, Möglichkeitsräume mit der Methode der Zukunftslabore zu erkunden.
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